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Stefan Bruweleit: Inspektor Kolluvies und der Feuerreiter (Anfang des Romans)

 

Knapp zwei Stunden lang hatte uns der Weg durch nicht enden wollende Ödnis und Wälder geführt, bis wir schließlich auf eine Anhöhe gelangten und sich mir der mit Abstand denkwürdigste Anblick in meinem an denkwürdigen Anblicken nicht gerade armen Leben bot. Wohl schwebte der Mond bereits geisterhaft über den endlosen Tannen- und Kieferwäldern, doch fiel noch genügend Tageslicht auf das von diesen umgebene Tal, um den Betrachter zunächst mit Erstaunen, dann aber mit einem umso stärker werdenden Grauen zu erfüllen, je länger er das Erblickte auf sich wirken ließ. Schlafhäusli hatte ein windschiefes Schild vor wenigen Metern verkündet, und selten nur haben Bezeichnendes und Bezeichnetes eine solch harmonische Einheit gebildet wie in diesem Fall. Denn in der Tat wollte es scheinen, als befinde sich der Ort zu unseren Füßen in einem schon Jahrhunderte währenden Dornröschenschlaf und habe alle Errungenschaften der Moderne spurlos an sich vorüberziehen lassen. Die meisten Häuser und Stallungen waren aus Holz, in den seltensten Fällen nur aus Backstein gefertigt, die Hauptstraße, die sich schief und in unterschiedlichen Ausdehnungen durch den Ort schlängelte, war an keiner Stelle geteert, sondern bestand, im günstigsten Fall, aus Pflastersteinen, die jedoch oft genug fehlten, sodass der Weg dann, wie grundsätzlich in den Nebengassen, völlig unbefestigt war. So etwas wie Telefon- oder Stromleitungen suchte ich vergebens, und die nervös aufflackernden Lichter in einigen Straßenlampen, die in unregelmäßigen Abständen die Hauptstraße flankierten, überzeugten mich, dass der Ort tatsächlich kein Stromnetz hatte.

Wie oft, wenn wir uns durch Märchen und den Erzählungen aus alten Tagen in eine durch die Ferne gleichsam verklärte Vergangenheit entführen lassen, fühlen wir uns von einem Zauber umwoben, der seine Macht gerade aus der Faszination schöpft, die unweigerlich mit dem Geheimnisvollen und Unbekannten verbunden ist. Gerade weil jene versunkenen Welten uns so fremd und anders dünken, fühlen wir uns zu ihnen hingezogen und tauschen sie nur zu bereitwillig gegen die oft so triste Gegenwart ein. Nicht jedoch so im vorliegenden Fall. Es fällt mir schwer, für meine Empfindungen eine rationale Erklärung zu geben, ich kann nur festhalten, dass mich weder ein träumerisches Sehnen nach einer versunkenen Welt erfüllte noch ich einen märchenhaften Zauber verspürte, als ich den Ort betrachtete, und gewiss wartete dort unten kein Dornröschen, das aus seinem Schlaf geküsst werden wollte. Nein, nur provinziell und primitiv, abweisend und auf irgendeine Weise böse wollte mir alles erscheinen, was ich dort unten erblickte.

»O mein Gott«, hörte ich Inspektor Kolluvies neben mit seufzen, dem offensichtlich ganz ähnliche Gedanken durch seinen brillanten Kopf gingen. Und vermutlich erhielt auch sein Enthusiasmus, mit dem er den Fall zunächst aufgenommen hatte, nun einen gehörigen Dämpfer. So erging es jedenfalls mir, und hätte ich geahnt, was uns noch bevorstehen sollte, so hätte ich mit allen Mitteln versucht, ihn noch zur Umkehr zu bereden. Zwei Tage zuvor hingegen, als unser Morddezernat in N. das Telegramm erhalten hatte, war auch ich noch Feuer und Flamme gewesen, denn faszinierend – zumindest für den polizeilichen Ermittler faszinierend – war die Kunde in der Tat, die dort aus der Wildnis zu uns drang. Ein Mord war geschehen in Schlafhäusli, der solchermaßen bizarr anmutete, dass wohl selbst ein erfahrener Ermittler wie Kolluvies tief in seinem Erinnerungsschatz graben musste, um etwas Vergleichbares zu finden, und was die Sache noch bizarrer machte, war der Umstand, dass vor genau zwanzig Jahren an demselben Ort ein nahezu identisches Verbrechen begangen worden war. Der Fall von damals war nie geklärt worden und wurde auch nicht, wenn überhaupt, von unserer Abteilung untersucht, sodass wir ihn mühsam aus Gerüchten und alten Zeitungsartikeln rekonstruieren mussten. Viel war es nicht, was wir auf diese Weise zusammentragen konnten, aber ein ungefähres Bild von der Sache verschaffte uns dieses Wenige doch. Demzufolge sah es so aus, dass vor zwanzig Jahren ein recht wohlhabender, für Schlafhäuslier Verhältnisse sogar sehr wohlhabender, Unternehmer namens Kümmling und der Arzt des Ortes von einem Wesen ermordet worden waren, das man mysteriös den Feuerreiter hieß. Auf einem flammenden Ross soll er in tiefschwarzer Nacht erschienen sein, soll die beiden Unglückseligen dann mit einer Forke erdolcht haben und dann so plötzlich, wie er gekommen, wieder in der Finsternis verschwunden sein. Es wundert kaum, dass solch ein Ereignis die Phantasie der Menschen beflügelt und die Geschichte mit der Zeit die tollsten Ausschmückungen erhalten hatte. Bald wurde aus der Forke ein Dreizack, aus dem Reiter der Leibhaftige selbst, der die beiden Opfer nicht einfach ermordet, sondern mit satanischem Gelächter in die finstersten Gefilde der Unterwelt hinabgezogen habe. Und nun, nach genau zwanzig Jahren, war er plötzlich wieder da, der Feuerreiter, bisher zwar nur als bloße Aktennotiz, doch hatte ich kaum Zweifel, dass er sich für uns schon bald mit fürchterlichem Leben füllen sollte. Das jetzige Opfer war ein junger Mann namens Alois Greiferli, der vor vier Tagen, also am 16. September, von dem geheimnisvollen Reiter überfallen und fortgeschleppt worden war. Was genau geschehen war, das ließ sich dem lakonischen Bericht nicht entnehmen, nur so viel erfuhren wir, dass man Aloisens blutverschmiertes Hemd ein Stück außerhalb des Ortes gefunden habe und dass keinerlei Zweifel an dessen Tod bestehe. Wir trafen also in aller Eile unsere Vorbereitungen und machten uns auf den Weg. Eigentlich hatten wir noch unseren jungen Assistenten Lukas mitnehmen wollen, der uns bei unserem letzten großen Fall geholfen hatte, doch absolvierte dieser gerade ein philosophisches Seminar, das unabdingbare Voraussetzung für seine Laufbahn im gehobenen Dienst war, sodass wir bedauerlicherweise auf ihn verzichten mussten. Von N. nach H. gelangten wir noch recht komfortabel mit der Bahn, um jedoch von H. nach Schlafhäusli, das gänzlich am Rand unseres Zuständigkeitsbereiches liegt, zu kommen, mussten wir uns immer ausgefallenerer Transportmittel bedienen, bis wir uns schließlich so weit in der Wildnis befanden, dass es nur noch auf einem klapprigen Heuwagen weiterging, der von einem altersmüden Ackergaul gezogen wurde. Und genau dort befanden wir uns nun, zwischen Heugarben und Mistgabeln kauernd und begleitet einzig von einem fast zahnlosen Gesellen, der wie ein ganzes Weinfass stank und mit seinem Gaul um die Wette vor sich hin sabberte, und blickten auf den Ort hinab, der also das Geheimnis um den sogenannten Feuerreiter in sich barg.

Irgendwann erreichten wir dann von Norden kommend den Ortseingang und der Feldweg ging in eine gepflasterte Straße über, wenn man es denn so nennen will, was den Fahrkomfort hingegen kaum verbesserte. Vorbei ruckelte und huckelte es an den ersten Häusern zu beiden Seiten. Rechts von uns erblickte ich eine alte Mühle, deren Flügel löchriger waren als ein Schweizer Käse und den Eindruck erweckten, sie würden beim ersten Windstoß auseinanderbrechen statt sich zu drehen. Wie ich von der Anhöhe aus bereits vermutet hatte, waren die Gebäude ganz überwiegend aus Holz gefertigt, und wenn sie auch keineswegs alle einen verfallenen Eindruck erweckten, so ging von ihnen doch eine Düsternis, um nicht zu sagen: eine Feindseligkeit aus, die nichts mit dem Charme anderer Städtlein gemeinsam hatte, die den Zauber des Vergangenen in die Moderne zu retten und mit dieser zu verbinden wussten. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die misstrauischen Blicke, die uns aus den Vorgärten und den Fenstern folgten und uns nur zu deutlich zu verstehen gaben, dass Fremde hier nicht willkommen waren.

Da waren wir also angelangt im finstersten Mittelalter und würden ihm so schnell wohl nicht wieder entfliehen können.

»Was ist das denn für ein Fluss?«, fragte der Inspektor, als der Weg eine Linksbiegung machte und hinter einer Böschung links von uns eine träge dahinschleichende Wassermasse zum Vorschein kam.

»Heh?«

»Was das für ein Fluss ist, habe ich gefragt.«

»Wat? Der da?«

»Genau der.«

»Na, dat is doch der Widdel.« Der Mann klang leicht verärgert darüber, dass Kolluvies den Namen des Flusses nicht kannte.

»Widdel? Wer kommt auf die Idee, einen Fluss Widdel zu nennen?«, entfuhr es ihm, wohl bevor er sich besinnen konnte.

»Wat is dat für ´ne dämliche Frage!«, entgegnete der Fuhrmann nun deutlich gereizt. »Ich bin der Wiegand und der Fluss is eben der Widdel. Passt Sie der Name etwa nicht?«, fragte er mit drohendem Unterton und wandte sich nun zu uns um, uns dabei mit seiner Fahne fast betäubend, obwohl er mehr als einen Meter von uns entfernt saß.

»Es lag mit fern, Ihnen in irgendeiner Weise zu nahe zu treten, mein bester Herr Wiegand«, entgegnete Kolluvies in beschwichtigendem Ton. »Es ist nur so, dass mir ein solcher Name noch nie zu Ohren gekommen ist.«

Herr Wiegand murmelte irgendetwas vor sich hin und wandte sich wieder dem Weg vor uns zu, während der Inspektor mir einen vielsagenden Blick zuwarf. Nach einer Weile sprach er ihn ein weiteres Mal an. »Sie wissen nicht zufällig, wo sich der Überfall ereignet hat? Vor vier Tagen soll das gewesen sein und ein junger Mann ist seitdem verschwunden.«

»Von die Sorte also seid ihr!«, fuhr Wiegand da auf. »Sonst wollt ihr nischt nicht von uns wissen, aber wenn mal einer von uns abgemurkst wird, dann kommt dat ganze Touristengesockse angeschlichen, um zu gaffen.«

»Mit Verlaub«, erwiderte Kolluvies hier mit einiger Schärfe. »Weder kommen wir hier angeschlichen, noch zählen wir zu dem, wie Sie sich auszudrücken belieben, Touristengesockse. Wir sind Polizeibeamte vom Morddezernat in N. und kommen, um Ihnen bei der Aufklärung eines möglichen Mordfalles zu helfen!«

Diese Worte verfehlten Ihre Wirkung nicht. Haltung und Miene des Gesellen änderten sich von einer Sekunde auf die andere, denn vermutlich wurde ihm gerade bewusst, dass es nachteilige Folgen haben konnte, wenn man stockbetrunken zwei Polizisten auf einer immerhin öffentlichen Straße durch die Gegend kutschierte. »Nichts für ungut. Das konnte ich ja nicht wissen. Wenn Sie Polizisten sind, dann ist das natürlich was anderes«, erwiderte er, und ich wunderte mich, wie nüchtern und hochdeutsch seine Rede plötzlich klang.

»Nun ja, vergessen wir das Ganze am besten«, entgegnete der Inspektor mit gewohnter Herzlichkeit. »Aber was ist nun mit dem Vorfall? Können Sie uns etwas darüber sagen?«

»Aber ja doch, ich hab´s ja schließlich selber gesehen«, sagte er, und ich meinte, einen gewissen Stolz aus seiner Stimme herauszuhören.

»Sie sind ein Augenzeuge? Das ist ja interessant!«

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